Krise auf Norwegisch

Jahrzehntelang bescherten die Erdölreservoirs vor Norwegens Küsten dem Land und seinen Bewohnern milliardenschwere Einnahmen. Der Verfall der Ölpreise vor drei Jahren hat gezeigt, wie abhängig die Nation von dem wichtigsten Rohstoff der Welt wirklich ist. Den Süden Norwegens traf es besonders hart, Zehntausende waren auf einen Schlag arbeitslos. Aber anstatt sich dem Schicksal des Niedergangs zu fügen, erfindet sich die Region gerade völlig neu.

Der Absturz


eir Karlsen schaut auf den Boden, die Augen hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen, die Hände in den Taschen seiner Jeans. Er atmet tief ein. „Ich hatte alles was man sich wünschen kann: Ich bin regelmäßig nach Singapur, Dänemark oder Polen gereist, habe viel Geld verdient, war glücklich verheiratet und hatte einen sicheren Job. Dachte ich jedenfalls.“

Noch heute fällt es dem 53-Jährigen schwer, über jene Zeit zu sprechen, in der er sich für ihn schlagartig alles änderte. Erst verlor Geir seinen Arbeitsplatz, dann ging seine Ehe in die Brüche und auf all seine Bewerbungen bekam er nur Absagen. Jetzt steht der Ingenieur vor der Zentrale des Unternehmens für das er zehn Jahre lang gearbeitet hat: National Oilwell Varco (NOV). Die Firma ist nach Statoil der größte Ölkonzern des Landes. Geir hat bei NOV gut gelebt, sein Jahresgehalt lag bei einer Million NOK (umgerechnet fast 110.000 Euro). Er blickt über die Schulter und erinnert sich noch einmal an die Misere. „Die Öl-Unternehmen haben immer mehr Menschen eingestellt, teilweise hatten die noch nicht einmal was zu tun“, erzählt er. „Dann kam die Krise. Und plötzlich haben zehntausende gleichzeitig ihren Job verloren“.

Egal ob Krankenpfleger, Ingenieur oder Elektroniker – wer eine sichere Zukunft und viel Geld verdienen wollte, suchte sich eine Anstellung in der Ölindustrie, dem wichtigsten Wirtschaftssektor des Landes. Von den 5,2 Millionen Norwegern arbeiteten vor zwei Jahren noch über 270.000 Menschen in der Ölbranche, 20 Prozent der norwegischen Wirtschaftsleistung, mehr als die Hälfte aller Exporte und etwa 80 Prozent der Staatseinnahmen hängen von dem wertvollen Rohstoff ab. Aber das Land schlitterte in eine Öl-Rezession. Die Produktionsmenge brach in den vergangenen 15 Jahren um fast 40 Prozent ein, weil die Kosten explodierten. Es wurde von Jahr zu Jahr teurer ein Barrel Rohöl (159 Liter) aus der Tiefsee zu fördern. Als dann auch noch der Preis für Nordseeöl der Marke Brent zwischen Mitte 2014 und Anfang 2016 von 110 Dollar auf teilweise unter 27 Dollar pro Fass absackte, zogen die Ölkonzerne radikale Konsequenzen.

Massiver Stellenabbau war die Folge. Innerhalb weniger Monate stieg die Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent 2014 auf 4,3 Prozent im Jahr darauf. 2016 arbeiteten nur noch etwas mehr als 180.000 Norweger in der Ölindustrie. Das Bruttoinlandsprodukt verringerte sich von fast 500 Milliarden Dollar innerhalb von nur einem Jahr auf 370 Milliarden.

Wie ein Stein, der im Wasser landet, löste auch die Ölkrise nach dem eigentlichen Preissturz weitere, wellenartige Turbulenzen aus. Die Misere breitete sich rasch auf die Zulieferindustrie und die Dienstleistungsbranche aus, die beide auf den Energiesektor ausgerichtet waren. Die Entlassungen schwächten die Kaufkraft, die schrumpfende Industrie zog Handel, Hotels und Gastronomie in Mitleidenschaft.

Das Gewächshaus


ie meisten Arbeitsplätze haben aber nicht die Ölförderunternehmen selbst gestrichen, sondern die Zulieferer der Industrie. Und die sitzen vor allem im Süden des Landes, nicht in Stavanger, der Ölhaupstatdt Norwegens, wo der mehrheitlich im Staatsbesitz befindliche Rohstoffriese Statoil seinen Sitz hat. Nur drei Autostunden entfernt kämpft auch die Region Sørlandet mit den Folgen der „Oljebremse“ (zu dt. Erdöl-Bremse).

Mit ihren glasklaren Seen, weißen Häusern, und Häfen, in denen Segelyachten, Fischkutter und Motorboote kreuzen, gilt Sørlandet als die Riviera Norwegens. Auf 200 Kilometern Länge reiht sich an der Küste im Süden ein malerisches Fischerdörfchen an das andere. Dass die Region die höchste Arbeitslosigkeit des ganzen Landes aufweist, ist auf den ersten Blick nicht zu erahnen. Von Krise nichts zu sehen.

Dabei haben von den mehr als 300.000 Einwohnern knapp vier Prozent in den vergangenen achtzehn Monaten ihren Job verloren. Über sechzig Unternehmen in der Region sind als Zulieferer direkt oder indirekt an das Schicksal der Ölindustrie gebunden. Aber die Süd-Norweger haben ihre ganz eigene Art mit der Arbeitslosigkeit umzugehen. Statt in Tristesse und Trübsinn zu verfallen, wagen sie etwas Neues. Seit einem Jahr zeichnet sich jedenfalls ein Trend in Kristiansand ab, der größten Stadt Sørlandets: Die Zahl der Start-ups ist innerhalb kürzester Zeit nach oben geschossen. Viele der Gründer sind ehemalige Mitarbeiter der Öl-Industrie.

Zu den neuen Gründern gehört auch Geir, den die Ölkrise alles gekostet hat. Nachdem eine Absage auf die nächste folgte, ahnte er, dass jemand wie er mit Mitte Fünfzig so schnell keine neue Arbeit mehr finden würde. „Wenn dir das bewusst wird, dann fängst du an dir Gedanken zu machen“, erzählt Geir während er in der Werkstatt im Keller seines Hauses in Kristiansand steht. „Und dann ist mir eine Idee eingefallen, die ich schon vor zwanzig Jahren hatte“, sagt er. Als er noch gut verdiente, hatte er die Idee nie weiter verfolgt. Erst die Ölkrise gab ihm den Anstoß, den er brauchte. Mittlerweile hat Geir ein Start-Up gegründet, geht bald in die Testphase und das Patent ist auch schon angemeldet. „Es ist ein Verfahren, dass Boote am Sinken hindert. Damit könnten gekenterte Schiffe nicht nur wie bisher 24 Stunden über Wasser gehalten werden, sondern ganze drei Monate.“ Mehr will der Ingenieur gerade nicht verraten, das könnte sein Patentverfahren gefährden. Aber die Ölkrise macht Geir nun vielleicht zum Menschenretter.

Die Kommune Kristiansand und die Ölkonzerne aus der Gegend haben nach dem massiven Stellenabbau der Ölindustrie eine Art „Gewächshaus“ nach dem Vorbild des Silicon Valley eingerichtet. Hier konnten ehemalige Mitarbeiter der Industrie ihre Ideen vorstellen. Wenn die Verantwortlichen in der Geschäftsidee Potenzial sahen, erhielten die Jungunternehmer anschließend Beratung, Büroräume und Gründungshilfe. Ein Jahr hat das Programm als Starthilfe gedient, heute hat sich daraus der Coworking Space entwickelt und ein beachtlicher Anstieg der Erstunternehmensgründungen in der Region. Ein Jahr nach dem Ölpreisverfall gab es Anfang 2016 bereits um 31 Prozent mehr Start-ups als zuvor.

Unternehmensberater Oyvind Arnesen ist überzeugt, dass diese Entwicklung Sørlandets Reaktion auf die Krise ist: „Wir haben mittlerweile viel mehr kleine Unternehmen mit zehn bis fünfzehn Mitarbeitern. Das Klima für Gründer hat sich in den letzten zwei Jahren radikal verändert, auch weil die Städte gesehen haben, dass sie etwas tun müssen, um die durch die Ölkrise entstandene Arbeitslosigkeit wieder in den Griff zu bekommen.“ Arnesen berät im Auftrag der Stadt die Start-ups in Kristiansand mit einem umweltfreundlichen Ansatz. Von 2006 bis 2014 habe die Ölbranche den kompletten Arbeitsmarkt regelrecht „leer gesaugt“, „jetzt ist endlich Potenzial da, sich auch mal mit anderen Branchen zu beschäftigen.“

Neben vielen Entwicklungen und Innovationen im Feld der Ölförderung, gibt es unter den Neuunternehmern auch solche, die in einen ganz anderen Bereich gegangen sind. So hat eine ehemalige Mechanikerin ein Café im Zentrum Kristiansands eröffnet, eine technische Übersetzerin ihre eigene Dolmetscher-Agentur und wieder andere haben sich zusammengetan und eine Solarfabrik gegründet.

Der Weckruf


er Umbruch auf dem Ölmarkt hat aber nicht nur das Leben vieler Norweger verändert, die Industrie steht ebenso an einem Wendepunkt.

Das musste auch Høye Høyesen feststellen. Während er die Flure seiner neuen Zentrale in der Küstenstadt Arendal entlang läuft, zeigt er mit der Hand auf die gegenüberliegende Seite des Kanals. Bis vor wenigen Monaten arbeitete der CEO von MacGregor noch in den alten Hallen, die aus dem dritten Stock des neuen Gebäudes aussehen, wie ein stillgelegtes Fabrikgelände. „Wir sind gerade umgezogen, da ist der Ölpreis eingebrochen“, erzählt der Manager. Das Zulieferunternehmen entwickelt Kräne, Ankerketten und Bohrlösungen für Ölmultis weltweit, einer der größten Kunden derzeit ist Shell, Europas größter Ölkonzerns. Von der Krise wurde das Traditionsunternehmen MacGregor besonders hart getroffen, innerhalb von anderthalb Jahren musste Høyesen 800 seiner damals noch 2500 Mitarbeiter entlassen. „Das ist nicht schön. Viele kannte ich schon seit Jahren“, teilweise auch Freunde oder Nachbarn. „Es waren ein paar schlimme Jahre“, aber nun sehe man ein bisschen positiver in die Zukunft. Das liege auch daran, dass die Unternehmen angefangen hätten, sich breiter aufzustellen. „Wir sind jetzt weniger abhängig von der Öl- und Gasindustrie“, sagt Høyesen. So hat erst im Juni der weltweit erste schwimmende Offshore-Windpark vor Schottlands Küsten seinen Betrieb aufgenommen, eine 250 Millionen Dollar schwere Kooperation zwischen MacGregor und Statoil. Auch in den Bereich Aquafarming, also der Massenzucht von Fischen, investiert das Unternehmen mittlerweile viel Geld - in die Forschung von Offshore-Aquafarming, also Fischfarmen im offenen Meer.

Viele Zulieferer der Ölindustrie in Sørlandet verfolgen eine ähnliche Strategie. „Wir müssen uns mehr mit innovativen Ideen auseinandersetzen und uns vor allem nach neuen Märkten orientieren“, fordert auch die Chefin des Global Center of Expertise Node, ein Zusammenschluss von Unternehmen des Energie- und Marinesektors in Sørlandet. Wirft man einen Blick in das Jahr 2025, bleibt der Industrie allerdings auch nichts anderes übrig. Neben Großbritannien, Frankreich und Indien, hat sich nämlich auch Norwegen zum Ziel gesetzt, dass schon in acht Jahren alle Neuwagen emissionsfrei sein sollen.

Politikerinnen wie Valerie Grut, Vorsitzende der Arbeiterpartei in Arendal hoffen, dass die Ölkrise und Anstöße wie ein geplantes Zulassungsverbot für Benziner und Dieselautos vielleicht sogar ein „Weckruf“ sind und die gesamte Industrie jetzt „grüner“ wird.

Die Optimisten


ber in einem Punkt sind sich hier alle einig: Öl ist und bleibt die wichtigste Einnahmequelle für Norwegen. Dennoch wird es nicht leichter. Ein Barrel Rohöl ist heute noch immer nur halb so viel wert wie noch Anfang 2014. Zudem ist die Ölförderung in Norwegen vergleichsweise teuer. Die Projekte auf hoher See verschlingen Milliarden während neue Ölquellen am Festland in den USA oder Saudi Arabien deutlich günstiger erschlossen werden können. Branchenriesen wie NOV haben deswegen bereits weitere Entlassungen angekündigt. Die Krise ist noch lange nicht vorbei.

Einen Trumpf hat der Staat aber noch in der Hinterhand: Aus den guten Zeiten hat Norwegen umgerechnet rund 760 Milliarden Euro gespart, um die Sozialleistungen in schlechten Zeiten nicht scharf zurückfahren zu müssen. Das Ende des norwegischen Traums droht damit zumindest nicht unvermittelt. Und vielleicht geht auch Geirs Traum in Erfüllung.